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Vom Lehrer zum Schweizer RevolutionärEr wollte ausschlafen, dann veränderte ein Anruf sein Leben für immer

Man nannte ihn den «Magier»: John Slettvoll, vierfacher Meistercoach, erinnert sich noch an jedes Detail.

John Slettvoll flanierte durch Lugano, dem See entlang zur Piazza della Riforma, und zeigte seiner Enkelin Saga via Facetime die Stadt, die sein Leben so sehr geprägt hat. Es war wunderbares Herbstwetter im Oktober 2021. «Grossvater, ich habe gerade eine Bucket-Liste davon gemacht, was ich alles erleben möchte», sagte sie zu ihm. «Aber jetzt habe ich noch einen neuen Punkt: einmal nach Lugano zu kommen.» Er versprach ihr, sie das nächste Mal mitzunehmen.

Slettvoll hielt Wort. Als er am vergangenen Freitag an der Stätte seiner grössten Erfolge gefeiert und in die Ruhmeshalle des Clubs aufgenommen wurde, waren seine Tochter Johanna und die Enkelinnen Saga (14) und Ella (13) dabei. Slettvoll, inzwischen 79-jährig, ist ein passionierter Grossvater. «Kürzlich habe ich gerade zu meiner Frau Elisabeth gesagt: ‹Was für ein Glück, dass wir in unserem Alter mit diesen Kindern Zeit verbringen dürfen!›» Saga teilt erst noch seine Liebe für die deutsche Sprache. Ella mag lieber Spanisch.

John Slettvoll am Freitag mit seiner Tochter Johanna und den Enkelinnen Saga und Ella in Lugano.

Zu Hause in Umea, sieben Autostunden nördlich von Stockholm, nimmt Slettvoll die beiden auch gern an die Spiele des lokalen Vereins Björklöven mit. Da war er jahrelang Spieler und auch Captain, später Coach. Inzwischen spielt das Team in der zweithöchsten schwedischen Liga. «Mich interessiert, wie sich das Eishockey entwickelt. Am Spiel treffe ich die Leute, diskutiere mit ihnen und fluche über das Team wie alle anderen», sagt er schmunzelnd. «Ich bin jetzt ein normaler Mensch.»

Der Prager Frühling 1992

In der Schweiz wurden Slettvoll einst übernatürliche Kräfte zugeschrieben. «Il mago», der Magier, war sein Übername. Er führte den HC Lugano von 1986 bis 1990 zu vier Titeln in fünf Jahren und die Schweizer als Nationalcoach 1992 in den WM-Halbfinal in Prag. Da rangen sie Russland (2:2) und Kanada (1:1) ein Remis ab, was damals noch eine Sensation war.

Vielleicht noch bemerkenswerter ist, wie Slettvoll und Bill Gilligan, sein erbitterter Gegenspieler als Trainer des SC Bern, im Nationalteam als Coachingduo harmonierten. Zumindest im ersten Jahr, als Slettvoll der Cheftrainer war. Doch zu ihrer komplizierten Beziehung später.

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Zuerst die Geschichte, wie Slettvoll überhaupt nach Lugano kam. Nach fünf Jahren als Headcoach in der höchsten schwedischen Liga suchte er eine neue Herausforderung. Er fragte seinen Landsmann Bengt Ohlson, damals Schweizer Nationalcoach, im Februar 1983 über die Schweizer Liga aus. Slettvoll amüsierte sich über den für ihn lustig klingenden Städtenamen Rapperswil und war überrascht, dass man in Lugano Eishockey spielte. Er war 1962 und 1965 mit einem Freund mit dem Auto dort vorbeigefahren. Sie hatten nur für einen Kaffee gestoppt, aber Slettvoll war verzückt gewesen «von der Stadt mit den Palmen». Sein Interesse war geweckt.

«Mantegazza sagte: ‹Ich komme mit dem eigenen Flugzeug.› Ich tat, als sei dies das Normalste der Welt.»

John Slettvoll

Ohlson stellte den Kontakt her, und Slettvoll kann sich noch genau erinnern, wie ihn an einem Samstagmorgen um 9.02 Uhr das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf riss. «Es war der einzige Tag, an dem ich ausschlafen konnte. Ich meldete mich mürrisch, als eine Stimme sagte: ‹Sind Sie Mister Slettvoll?› Sofort war ich hellwach.»

Es war Lugano-Präsident Geo Mantegazza. Sie vereinbarten, sich bei einem Spiel in Karlstad zu treffen. Slettvoll erklärte Mantegazza, in Stockholm müsse er noch einen Inlandsflug nehmen. «Ich vergesse nie mehr, wie er sagte: ‹Ich komme mit dem eigenen Flugzeug.› Ich tat, als sei dies das Normalste der Welt. Als würden wir alle im Privatjet reisen.»

Jahre später sagte Mantegazza, am meisten habe ihn an Slettvoll beim ersten Treffen in Karlstad beeindruckt, wie dieser im Hotel davongerannt sei für das Taktikmeeting mit dem Team. Es war Slettvolls letztes Spiel mit Skelleftea, es ging um nichts mehr. Aber er wollte auf keinen Fall zu spät kommen. «Ich musste eine lange Treppe mit rotem Teppich hoch und nahm zwei oder drei Stufen auf einmal», erzählt Slettvoll. Nach dem Spiel unterhielten sie sich bis drei Uhr morgens. Slettvoll hatte mehrere Seiten mit Fragen vorbereitet.

Diese Detailversessenheit sollte ihn dann auch in Lugano auszeichnen. Doch zuerst einmal war er schockiert darüber, welche Zustände er in der Schweizer Liga antraf. Im Vergleich zu Schweden war die Schweiz damals noch ein Eishockey-Entwicklungsland. Ohlson landete mit den Schweizern an der B-WM 1983 in Tokio auf Rang 6, hinter Polen, Österreich, Norwegen oder Japan. Auch gegen Rumänien setzte es eine Niederlage ab.

Ehre, wem Ehre gebührt: John Slettvoll wurde am vergangenen Freitag vor dem Derby gegen Ambri gefeiert.

Slettvoll begriff, wieso, als ihm Mantegazza erstmals ein Video von Lugano vorspielte. Nach einem Drittel hatte er genug gesehen. «Ein Spieler nahm den Puck, stürmte übers ganze Feld und machte einen Slapshot. Dann tat ein gegnerischer Spieler das Gleiche. So wogte das Spiel hin und her, ohne dass es koordinierte Angriffe gab.»

Erst als ihn seine Frau Elisabeth im November in Lugano besuchte und eine Videokassette des Spiels Timra gegen Skelleftea mitbrachte, schaffte es Slettvoll, seinen Spielern zu vermitteln, was er unter Teamspiel verstand. «Das war das Aha-Erlebnis.»

Nicht nur taktisch, auch punkto Trainingslehre und -intensität führte der Schwede ganz neue Standards ein. Ein Warm-up am Vormittag des Spieltags, zwei Trainings an spielfreien Tagen, das alles war neu. Als er an einem Meeting der Liga-Coaches auf Geheiss von Ohlson seinen Trainingsplan auf einem Flipchart aufgezeichnet habe, hätten die anderen ihren Augen kaum getraut. Ob das die Spieler und der Präsident gutheissen würden, fragte einer. «Die Spieler sind da, um zu spielen, nicht um den Trainingsplan zu machen», sagte Slettvoll. «Und wenn der Präsident das nicht will, bin ich schnell weg. Es gibt täglich zwei Flüge nach Stockholm.»

«Sollten wir die netten Jungs sein und uns alles gefallen lassen? Nicht mit mir. Niemals!»

John Slettvoll

Slettvolls Kompromisslosigkeit trug schnell Früchte. Ab dem dritten Jahr dominierte er mit Lugano die Liga. Und wenn es sein musste, waren ihm dazu alle Mittel recht. Wie Anfang 1987, als er den schwedischen Hünen Mats Hallin einflog, um das aufmüpfige, stark kanadisch geprägte Ambri in die Schranken zu weisen.

Diese Form von Selbstjustiz sei nötig gewesen, sagt Slettvoll. «Wir hatten zu viel einstecken müssen, besonders Kent Johansson. Die Schiedsrichter pfiffen viel zu wenig, weil sie Angst hatten. Es sei nicht schön, wenn das Auto nach dem Match zerstört sei, sagte mir einer. Aber sollten wir die netten Jungs sein und uns alles gefallen lassen? Nicht mit mir. Niemals!»

Der erste von vier Titeln: John Slettvoll feiert am 2. März 1986 den Finalsieg über den HC Davos.

So kam es am 10. Januar 1987 in der Valascia zu einer der brutalsten Massenschlägereien im Schweizer Eishockey. Hallin erfüllte seinen Job, verprügelte Ambris Provokateur Misko Antisin, dem eine Wunde am Hals mit 13 Stichen genäht werden musste. «Prompt haben wir dann im Halbfinal gegen Ambri gespielt», sagt Slettvoll – und fügt zufrieden an: «Und dann haben die Schiedsrichter plötzlich alles gepfiffen.» Es sei mit Antisin nichts Persönliches gewesen, fügt Slettvoll an. «Ich nahm ihn auch ins Nationalteam mit, und noch heute gratulieren wir uns auf Facebook zum Geburtstag.»

Slettvoll war hart und unnachgiebig mit den Spielern, aber er war auch ein Pädagoge. In Schweden hatte er neben dem Eishockey während zehn Jahren schwer erziehbare Kinder unterrichtet. Wie sein Bruder Kjell. Das hatte ihn geprägt. «Diese Kinder kamen meist aus sehr schwierigen Familienverhältnissen. Zuerst musste ich ihnen Grenzen aufzeigen, dann ihr Vertrauen gewinnen. Damit sie irgendwann merkten: Dieser dumme Lehrer will mir helfen. Konnte ich diese Brücke nicht schlagen, klappte es nicht.»

Die enge Beziehung zu Jenni

Natürlich sei der Umgang mit schwer erziehbaren Kindern schwieriger gewesen als der mit Eishockeyspielern. «Aber auch bei ihnen galt es, gewisse Grundwerte zu vermitteln und Grenzen zu setzen. Manchmal musste ich sie herausfordern, aber beleidigt habe ich sie nie.»

Ein Spieler sei ihm besonders geblieben: «Er brauchte Hilfe, um auf der richtigen Strasse zu bleiben. Wir haben heute noch Kontakt.» War das Marcel Jenni, der heutige U-20-Nationalcoach? Slettvoll nickt. «Es war nicht immer einfach für ihn. Aber er hat es geschafft. Sein Weg freut mich sehr.» Der Schwede ist sichtlich gerührt, wischt sich eine Träne aus dem Auge.

«Ich sagte zu Gilligan: ‹Versuch deinen Spielern beizubringen, Eishockey zu spielen. Aber das ist für euch wohl zu schwierig.›»

John Slettvoll

Nach drei Titeln in Folge wurde Lugano 1989 vom SC Bern entthront. Es war die erste grosse Rivalität in der Schweizer Playoff-Ära. Dass die Schiedsrichter im Allmendstadion vor 16’000 Leuten eingeschüchtert gewesen seien, vergisst Slettvoll nicht zu erwähnen. Und die Stimmung zwischen ihm und SCB-Coach Gilligan war angespannt. Vornehm ausgedrückt.

Im dritten Finalspiel 1990 in der Resega wurden die beiden fast handgreiflich: «Ich sah, dass Gilligan in der zweiten Pause auf den Schiedsrichter wartete, und dachte: Dann bleibe ich auch. Ich möchte zuhören. Er hat reklamiert. Ich sagte zu ihm: ‹Versuch deinen Spielern beizubringen, Eishockey zu spielen. Aber das ist für euch wohl zu schwierig.› Er antwortete: ‹Denkst du, du bist Mister Swiss Hockey?›» Sie standen Nase an Nase.

Slettvoll hat ein Elefantengedächtnis, erinnert sich noch an jedes Detail. Das habe er auch schon gehört, sagt er. «Aber meine Frau sagt jeweils: Das trifft nur zu, wenn es ums Eishockey geht.» Mit 79 ist er auch körperlich immer noch fit. Er sprintet fast zum Fotoshooting im Fitnessstudio eines Luganeser Hotels.

«Ich bin glücklich, bin ich immer noch so gesund. Obschon ich vor zehn Jahren eine Bypass-Operation machen musste», sagt er. «Ich war stets ein passionierter Läufer und mache heute Rentner-Krafttraining. Ein paar Übungen, um die Muskeln zu provozieren. Aber ich bin nicht der Typ, der beweisen will, dass ich jünger bin als mein Alter.»

Er, der schwedische Magier des Schweizer Eishockeys, hat schon genug bewiesen.